Hirnforschung
20. August 2018 Neuigkeiten

Wie Eltern die Sprach­ent­wicklung ihrer Kinder fördern können

Je mehr Wörter Kinder von ihren Eltern hören, umso besser entwickelt sich ihr Gehirn. Vorlesen gilt als besonders nützlich – doch über eine gute Sprachentwicklung entscheidet noch etwas ganz anderes.

Johann Grolle berichtet als Korrespondent für den SPIEGEL aus Boston. “Das ist die Welthauptstadt der Wissenschaft”, sagt der langjährige Leiter des SPIEGEL-Ressorts Wissenschaft/Technik. An dieser Stelle schreibt er, was Forscher am MIT, der Harvard University und anderswo in den USA bewegt.

Kleinen Kindern Geschichten vorzulesen ist gut, doch mit ihnen darüber zu sprechen noch viel besser. Mit großem technischen Aufwand haben der Hirnforscher John Gabrieli und sein Team jetzt diese einfache pädagogische Grundregel untermauert.

Am MIT herrscht Gabrieli über das Martinos Imaging Center, eine Art Maschinenpark zur Hirndurchleuchtung. Dort schiebt er Probanden in die Tomografenröhren, um so ihre Gedanken, ihre Erinnerungen und Gefühle zu erforschen. Zugleich aber deckt er auch die Spuren auf, die Armut, Vernachlässigung und soziale Ungerechtigkeit im Geflecht der grauen Zellen hinterlassen. Er führt, so könnte man sagen, Klassenkampf im Hirn.

Ich kann mich noch an die Beklemmung erinnern, die mich befiel, als ich vor drei Jahren erstmals von Ergebnissen aus Gabrielis Labor erfuhr: Damals hatte er untersucht, ob sich das Einkommen der Eltern in der Anatomie des Großhirns von Kindern niederschlägt. Er wies nach, dass die kortikale Rinde im Schläfenlappen der Probanden aus wohlhabenden Familien deutlich dicker war. Das ist bedeutsam, denn es handelt sich dabei um Hirnareale, die maßgeblich am Wissenserwerb beteiligt sind.

Je mehr die Eltern verdienen, desto leichter fällt den Kindern also das Lernen. Oder anders ausgedrückt: Bei Kindern, die in Armut aufwachsen, bleiben eben jene Hirnregionen in der Entwicklung zurück, die ihnen helfen könnten, diesen Verhältnissen zu entkommen. Krasser lässt sich die Tragik sozialer Benachteiligung kaum auf den Punkt bringen.

Jetzt hat sich Gabrieli erneut der sozialen Frage zugewandt. Diesmal knüpfte er an einen anderen schockierenden Befund an, der schon vor gut 20 Jahren für Aufsehen sorgte: Damals hatten Wissenschaftler untersucht, wie viel Eltern und Geschwister mit kleinen Kindern sprechen.

Sie versuchten, möglichst genau zu ermitteln, wie viele Wörter ein Kind in den ersten drei Jahren seines Lebens zu hören bekommt. Das Ergebnis: Bei Kindern aus reichen Familien lag die Zahl um etwa 30 Millionen höher als bei jenen, die unter Sozialhilfe-Bedingungen aufgewachsen waren. Diese “30-Millionen-Wörter-Lücke” ist seither unter Pädagogen zum Inbegriff sozialer Benachteiligung geworden. Denn für die Zukunft der Kinder könnte der Reichtum an Wörtern wichtiger als der an Dollars sein.

Gabrieli wollte es nun noch genauer wissen: Wie wirken diese 30 Millionen Wörter auf das Gehirn ein? Welchen Einfluss haben sie auf das Vokabular, die sprachliche und die geistige Entwicklung eines Kindes?

Forscher-Video zur “30-Millionen-Wörter-Lücke” (auf Englisch)

Dem MIT-Forscher kam zugute, dass die Computertechnik seit Veröffentlichung der 30-Millionen-Wörter-Studie große Fortschritte gemacht hat. Während die Wissenschaftler seinerzeit jede der untersuchten Familien einmal im Monat persönlich besuchen und beobachten mussten, konnte Gabrieli auf die sogenannte LENA-Methode zurückgreifen. Dem Kind wird dazu ein Aufnahmegerät umgebunden, das jeweils einen Tag lang jedes Wort aufzeichnet, welches das Kind hört oder spricht. Moderne Spracherkennungs-Software macht es möglich, die Aufnahmen dann automatisch auszuwerten.

Parallel dazu erfassten die Forscher die Sprachentwicklung ihrer 4- bis 6-jährigen Probanden – auf zweierlei Weise. Zum einen ermittelten sie mit Hilfe von Standardtests den Wortschatz und die Sicherheit beim Gebrauch grammatischer Regeln. Zum anderen lasen sie den im Kernspintomografen liegenden Kindern Geschichten vor und vermaßen währenddessen die Aktivität in ihrer Broca-Region, einer Struktur des Großhirns, die als ein Steuerzentrum der Sprachverarbeitung gilt.

Kleine Sprache versus Weltsprache

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Das Ergebnis war eindeutig und überraschend: Zwar bestätigte sich, dass Kinder aus reichen Elternhäusern mehr Sprache ausgesetzt waren, und dass ihr Sprachvermögen entsprechend besser ausgebildet war. Bei genauerer Analyse stellte sich jedoch heraus, dass es dabei gar nicht so sehr auf die Zahl der gehörten Wörter ankam. Viel wichtiger scheint die Zahl der Wortwechsel zu sein.

Ein Kind, auf das nur eingeredet wird, ohne dass es selbst zu Wort kommt, kann den Fluss der Begriffe und Gedanken offenbar viel schlechter verarbeiten, als ein Altersgenosse, der sich austauschen kann. Sprache, so das Fazit der Forscher, ist eine interaktive Fähigkeit. Sie entsteht im steten Hin und Her.

Natürlich geht oft das eine mit dem anderen einher: Ein Kind, das viel hört, spricht meist auch viel. Doch in ihrer Studie fanden die Forscher auch Ausnahmen von dieser Regel: Einige jener Probanden, deren Eltern weniger redselig waren, zeichneten sich trotzdem durch großen Wortschatz und komplexen Sprachgebrauch aus. Meist waren es genau jene, die von ihren Eltern gern in Dialoge verwickelt wurden.

“Es ist geradezu magisch, wie das elterliche Gespräch das biologische Wachstum im Gehirn anregt”, sagt Gabrieli.

 

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